Eine ortsbezogene Inszenierung auf Haus Stapel, Havixbeck (27.11. /5.12.2010)
von Jürgen Lemke
Unter einer dünnen weißen Decke brodelt lebendig eine bissige animalische Wildheit, die irgendwann ausschwärmen wird. In Erwartung bereiten wir als kultivierte Feinschmecker der Natur einen Tisch. Das Tischlein ist gedeckt und steht bereit. Im Zentrum des Wasserschlosses Haus Stapel. Mitten im Eingang des klassizistischen Säulenportals eines Herrenhauses. Dort, wo ehemals der Fürst seinen Auftritt hat und auf einem Podest die römische Göttin Flora thront. Es soll laut beiliegendem Rezept Maikäfersuppe geben. Irgendwann, wenn es wärmer ist. Sie sollen nur kommen! Käfer! Faszinierend, eklig, etwas bizarr diese Vorstellung? Eigentlich gar nicht so ungewöhnlich. Handelt es sich doch um ein altbewährtes Rezept, das sich bis Ende des 19. Jahrhunderts in deutschen Kochbüchern findet. Man isst Maikäfer traditionell als Suppe oder sogar auch kandiert als Süßspeise. Daher die Schokokäfer! Warum also jetzt nicht wieder aus der Not eine Tugend machen? Einer drohenden Plage, der alles Grün wegfressenden Käfer leiblich Herr werden. Warum vergiften und ausrotten, wie in den 70er Jahren, als ein Reinhard Mai singt: „Es gibt keine Maikäfer mehr!“ Jetzt sind sie wieder da! Alle vier Jahre in Massen. Bald auch auf Haus Stapel. Die weitaus elegantere Lösung ist: Man leibt sich die nahrhaften Schädlinge, ganz im Sinne einer vereinnahmenden barocken Eventkultur ein. Einem unwiderstehlichen Drang nach exklusivem Genuß, Repräsentation, schrillem Hype und Veröffentlichung folgend. Als eine exklusive kulinarische Delikatesse. Nach dem Rezept von Bertha Heyden aus dem Jahr 1887: „Maikäfersuppe ist der Krebssuppe ähnlich, nur kräftiger und wohlschmeckender.“ Die Invasion brummender Maikäfer kann vor der exklusiven Kulisse eines Schlosses ein richtiges Event werden, eine Küchenschlacht, eine Inszenierung kultureller Dominanz über Natur. In einem Schloss, das auf barocker Grundanlage errichtet ist, hat diese in Stein gehauene Haltung Tradition: Natur hat sich harmonisch und dekorativ in eine achsensymmetrisch angelegte Architektur einzufügen. Eine Gestaltung mit aufforderndem Impetus: Alles Lebendige beuge sich vor dem Herrscher. Die zentrale Mittelachse, von Tor über Brücke, bis hin zum Eingang dient der Inszenierung seines Auftritts. Repräsentationskultur par Excellence! Eine in Sandstein erstarrte höfische Bühne, ein Ort geronnener theatraler Gesten, wirkt immer noch „machtvoll“ nach Außen und Innen. Schon ausgestorben geglaubte Haltungen und Handlungen führen sich immer wieder zeitaktuell auf, wie auf einer unsichtbaren Matrix. Manch eine Bewohnerin scheint mit dieser besonderen Wohnstatt zugleich noch etwas von der hier offenbar eingewohnten herrschaftlichen Haltung zu beziehen. Welche Anleihen an eine splendide absolutistische Kulisse von Herrschaftsarchitektur zwischen Macht und Ohnmacht wirken hier immer noch – oder schon wieder – vor Ort? Welch subversiven Akt vollziehen Maikäfer-Engerlinge an den Wurzeln einer am Barock orientierten Grundordnung?
Auf Haus Stapel ist in der Hofanlage vor dem klassizistischen Herrenhaus rudimentär die Grundstruktur des Barock deutlich: Achsensymmetrie, parallele Rasenflächen, paarweise Bäume rechts und links sowie ein zentriertes grasbewachsene Rondell vor dem Hauptportal. Das atmet allerdings in seiner nonchalanten lockeren Umrandung mit elf ungleich großen Findlingen schon eher den Freigeist des Englischen Landschaftsgartens. Elf Steine sind systemisch gesehen eigentlich ein Affront. Stapel im Wandel zwischen Barock und Klassizismus? Man bewegt sich von der Brücke aus durch eine barocke Vorburg mit achsensymmetrischer Hofanlage auf ein klassizistisches Herrenhaus mit Säulenportal zu. Geht die Bewegung vom Absolutismus in Richtung Aufklärung? Natur im Barock hatte eine dienende und schmückende Funktion. Herrschaftszeiten! Heute wird der Pudel wieder in die bürgerliche Hecke geschnitten und Natur im Dienste von Repräsentation geformt. Nach dem Motto: Möge doch ein wenig höfischer Glanz angesichts meines Vermögens, Natur harmonisch zu bändigen und durch Formstrenge in ihre Schranken zu weisen auch auf mich selbst abfärben! Formwillige, stets scherrbereite Buchsbäumchen in schönen Tontöpfen werden wieder symmetrisch an Eingängen plaziert. Säulchen und Portälchen werden auch gern genommen. Die glitzernde goldene Stab-Kugel mit Schleifchen darf in keinem Vorgarten fehlen und dazu vortrefflich passend kleine niedliche Figürchen. Sonnen wir uns so gern im Glanz des Absoluten und Perfekten? Stellt sich hier im morbiden Schloss eine grundsätzliche Frage nach Freiheit oder nach einem durch die äußere Form bestimmten Schicksal, nach Schein und Sein? Maikäfer flieg…?
Ausgangspunkt für meine ortsbezogene Arbeit im Öffentlichen Raum ist die Einladung, für die Ausstellung „Sense 9“ das zentral im Innenhof des Schlosses Haus Stapel gelegene Rondell vor dem Hauptportal künstlerisch zu thematisieren. Ich stelle bei meinen ethnografischen Studien der „Hofkultur“ fest: Das Rondell ist belebt. Unter dem schönen grünen Rasen gibt es, nach Auskunft von Bewohnern, hunderte wenn nicht tausende von bissigen Maikäfer-Engerlingen, die an den Graswurzeln nagen. Seltsam, ja fast märchenhaft. Sie fressen sichtbar eine braune Form in das grüne Rondell. Diese bedeckt fast die eine Hälfte und ragt bis über die Mitte hinaus in die herrschaftliche Sichtachse. Die Form aus totem Gras erhöhe ich mit einem rot-weißen Warnmarkierungsband und Stahlstäben, die ich von Haus Hülshoff geliehen habe. Ich errichte auf dem Rondell gleichsam eine Baustelle im Öffentlichen für das brodelnde Lebendige unter der Oberfläche. Wer muss hier eigentlich vor wem geschützt werden? Die sich gerade selbst formenden Engerlinge vor ihrer Verfütterung an das Chamäleon eines der Schlossbewohner? Die Kinder davor, von Engerlingen gebissen zu werden? Engerlinge unterhöhlen und stören eine „schöne“ Kulisse. Brechen Form. Natur lässt sich nicht bändigen, sie wirkt subversiv. Ich bewahre Form. Spanne ein rot-weißes Achtsamkeitsband. Mache aufmerksam auf subversives Tun unter der Oberfläche. Ich lasse die verdeckte braune Form symbolisch rot-weiß über dem Schnee schweben. Sie schiebt sich in die Mittelachse des Schlosses. Die zentrale Sichtachse wird unterbrochen. Es ergibt sich eine rot-weiße Irritation vor dem Schlossportal.
Für die „Lösung der Maikäferfrage“ bereite ich eine Option vor: Einen runden Tisch und zwei Stühle versetze ich von ihrem ursprünglichen Standort, vier Meter weiter links, mittig in die Achse, ins Zentrum. Ich decke den Tisch mit Requisiten, die ich mir von Bewohnern Haus Stapels leihe: Eine Tischdecke, zwei Teller, zwei Gläser, zwei Löffel, zwei Servietten und einen Kerzenleuchter. Dazu lege ich ein Rezept für Maikäfersuppe. Ich wünsche Guten Appetit.