Katastrophenprojekt für Ruhr.2010

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Die Berichterstattung über die Katastrophe bei der Loveparade zeigt, wie extrem Massenevent, Vermarktung, Hype, Sensation und Schaulust in einem erschreckenden durch Medien vermittelten Kontext stehen. Daraus ergibt sich für mich eine dringende Notwendigkeit diese Zusammenhänge kritisch zu reflektieren.

Im Jahre 2008 ist als Projektvorschlag für RUHR.2010 ein medienkritisches Kunstprojekt eingereicht worden, das zum Thema die medial gehypte Real-Inszenierung einer Katastrophe hatte. In dem Projekt „ORTungen 2010: Katastrophen-Schutz-Übung“ sollten Soap-Darsteller aus bekannten Serien wie Lindenstraße, GZSZ, etc in eine fiktive inszenierte Katastrophe geschickt werden und dort von Kamerateams ihrer Sender live begleitet werden. Zugleich sollte das Projekt eine reguläre Übung für Katastrophenschutzeinheiten (Feuerwehr, Rotes Kreuz, Malteser, THW) sein, die unter fast realen Bedingungen für den Ernstfall proben sollten. Dieses Kunstprojekt ist von RUHR.2010 wegen seiner fehlenden Nachhaltigkeit abgelehnt worden.

Ich möchte an dieser Stelle die „reale Katastrophe“ zum Anlass nehmen, um über die damals angesprochene grundsätzliche Problematik der Verzahnung von Massen-Event und Medienberichterstattung  zu reflektieren.

Ich zitiere aus dem Konzept:

„Unter der thematischen Leitlinie „Identität-Urbanität-Integration“ entwickelt das Interdisziplinäre Büro Münster das Projekt „ORTungen 2010: Katastrophen-Schutz-Übung, eine Real-Inszenierung“. Ein Konzept, das die Durchführung einer Katastrophen-Schutz-Übung als künstlerisches Projekt zum Inhalt hat, mit dem Ziel, auf unterschiedlichen Ebenen Wirkungen und Wirklichkeiten einer Katastrophe erfahrbar zu machen.

Nichts ist erschütternder und faszinierender zugleich: eine Katastrophe. Ausgelöst durch Krieg, Terror, Natur oder Technik ist sie in der Geschichte der Menschheit immer wieder Anlass zur Besinnung, in der Gesellschaft sich selbst reflektiert. Sind wir auf dem Weg in die nächste (selbst inszenierte) Katastrophe? Wir sind Katastrophe?

Wie funktionieren Katastrophen real und medial? Bestellen wir ein Untersuchungsfeld unter künstlerischen Aspekten, als erfahrbaren Wahrnehmungs- und Übungsraum. Schaffen wir einen Reflexions- und Identitätsraum, um zu erfahren, was wäre, wenn wir selbst zum Opfer einer Katastrophe würden.

Der Klimawandel und seine Folgen scheinen kaum mehr abwendbar zu sein. Eine dieser Folgen dürfte ein steigender Meeresspiegel sein, eine andere sind extreme Wetterlagen. Die Vorstellung von einer Katastrophe, wie die einer unmittelbar hereinbrechenden apokalyptischen Sintflut gehört sicherlich zu den Urängsten der Menschheit. Von den Projektionsflächen der Medien fluten diese Urbilder immer wieder in die Kinos. Es sind Szenarios, die inzwischen durch persönliche Erfahrungen untermauert werden.

Durch die Allgegenwärtigkeit einer gleichwohl unsichtbaren Terrorgefahr, wie sie wieder und wieder in der Politik und in den Medien in den Vordergrund gerückt wird, beginnen räumliche Distanzen zu schrumpfen, medial unterstützt durch Live- Sensationsberichte und die persönliche Betroffenheit von Augenzeugen, die das Schicksal hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein.

Der Tsunamie-Schock in Thailand mit vielen betroffenen deutschen Urlaubern gilt als Beispiel aus dem Nahraum, denn er ging über die Fernsehkanäle direkt ins Herz der Zuschauer.

Noch vor zwei Jahren kam es durch ungewöhnliche Eislasten und den Zusammenbruch von Strommasten auch im Münsterland zu tagelangen Stromausfällen und entsprechenden Folgen für zehntausende Menschen direkt vor der eigenen Haustür.

Plötzlich befinden wir uns auch in der scheinbar so sicheren westlichen Welt wieder mit Kerzen in der Hand auf dem Weg in die solidarische Notgemeinschaft am wärmenden Lagerfeuer. Auch das sind Erfahrungen, wie sie Katastrophen mit sich bringen. Auch der nächste schon absehbare noch namenlose Orkan wird wieder Bäume entwurzeln, Dächer abdecken und für Überschwemmungen sorgen, das jedenfalls ist sicher. Inzwischen wissen wir auch: Vieles davon ist hausgemacht. Wir haben einiges davon mit zu verantworten. Wir sind Katastrophe.

In einem geeigneten ehemaligen Industrieareal mit evtl. noch nutzbaren Gebäudefragmenten zwischen Ruhrgebiet und Münsterland – z.B. Emscherbruch bei Recklinghausen – wird eine Katastrophe größeren Ausmaßes inszeniert. (…)

Ganz exponiert werden neben der regulären Rettungsarbeit an besonders ausgewiesenen Orten innerhalb des Terrains spezielle Notfallsituationen simuliert. Hier finden wir Schauspieler-Stars aus einschlägig bekannten Fernsehserien von „Lindenstraße“ über „GZSZ“ bis „Wege zum Glück“ als bekannte Identifikationsträger für eine Nah-Berichterstattung. Zuschauer können auf den Großprojektionsflächen der einzelnen Fernsehsender den Weg ihres Stars vom Unglück bis zur Rettung und Versorgung im Krankenhaus verfolgen.

Mobile Kamerateams von Sat1 bis WDR mit Live-Berichterstattungen für die entsprechenden Großbildleinwände an den Zuschauertribünen. Wir finden dort den RTL-Screen, die SAT1 Wand, die PRO7 Bühne und die Öffentlich-rechtlichen Projektionsschirme.

Wir sind als Zuschauer Live vor Ort in der Katastrophe. Private und öffentlich-rechtliche Sender bekommen die Möglichkeit, ihre eigenen Bilder – primär die ihrer Stars – zu zeigen und zu kommentieren. Zuschauer haben die Möglichkeit zwischen den einzelnen senderspezifischen Präsentationen der medial rezipierten Wirklichkeit zu wandeln und sich „ihr Bild“ zu machen zwischen der realen Fernsicht und den medial vermittelten Nahsichten.

Die Real-Inszenierung „Katastrophen-Schutz-Übung“ bezieht ihre Bedeutung unter anderem aus folgenden zeitaktuellen Themen:

• Aktualität von Katastrophenerwartungen durch fortschreitenden Klimawandel und zunehmende Terrordrohungen

• Dringende Notwendigkeit, mögliche zukünftige Katastrophenereignisse für den Schutz der Zivilbevölkerung zu üben

• Veränderungen in der Rezeption von Wirklichkeit: Zunahme von Simulationen, Etablierungen von Scheinwelten (z.B. Second Life, World of Warcraft, etc)

• verändertes Sicherheitsempfinden impliziert möglicherweise eine stärkere Identitätssuche und Zunahme des Starkults

• Spektakularisierung und gesellschaftlicher Voyeurismus, Schau- und Sensationslust

• Versuchsfeld zur Untersuchung medialer Darstellungs- und Rezeptionsformen von Katastrophenereignissen zwischen Fiktion und Wirklichkeit

• Eine Katastrophe unter der „Supervision von Öffentlichkeit“, ein bestelltes Experimentierfeld für einen öffentlichen Diskurs“

aus Projekt „ORTungen 2010: Katastrophen-Schutz-Übung“