Inszenierung Fußball: Ist die Wirklichkeit zu schnell für meinen medial verwöhnten Blick?

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Nach langen Jahren medialen Fußball-Erlebens per Sportschau oder Länderspielübertragung, sitze ich eines Tages wieder im Fußballstadion bei einem Live-Spiel mit achtzigtausend Zuschauern. Ich bin überwältigt. Alles plötzlich ganz in echt. Groß, schreiend, laut. Real vor meinen Augen. Und dann passiert es: Nur ein kurzer Blick nach rechts zum Nachbarn. Ein klitzekleiner Augenblick. Zack! Himmel-Herr-Gott-Sakra. Um mich herum bricht die Hölle los. Ich höre nur noch Schreien. Sehe nichts. Alle springen auf und fallen sich in die Arme. Ich nicht. Ich bleibe sitzen. Bin draußen. Nicht wirklich drin in dieser großen Emotion. In der spontanen Bewegung. Bin eher wie erstarrt. Ich kann da jetzt nicht mitgehen. Das Tor ist verpasst. Das darf doch nicht wahr sein. Im entscheidenden Moment abgelenkt. Ein kurzer Blick an den Mitmenschen. Verschenkt. Und schon vorbei. Die Gruppe feiert ohne mich. Das war die entscheidende Sekunde des ganzen Spiels und ich habe sie nicht gesehen. Nicht erlebt. Alles umsonst?

Vergebens warte ich nun auf die Wiederholung, wie beim Fernsehen. Wozu bin ich hier? Ich will sehen. Das geht so unglaublich schnell. Und ist auch weit weg. Unten auf dem Feld. Ich habe dazu keine wirkliche Meinung. Ich bin mir unsicher über meine Augen. Die Vergewisserung, wie etwas wirklich passiert, geschieht offenbar längst nicht mehr in der realen Zeit, der Echtzeit sondern erst in der verlangsamten Wiederholung, in der Super-Zeitlupe. Die fehlt hier basal im Stadion. Ich bin es anders gewohnt. Jetzt bin ich verunsichert. Hat der Schiedsrichter überhaupt wirklich gesehen und richtig entschieden? Hat die Masse recht? Soll ich mich freuen, darf ich mich ärgern? Ich warte und denke nach. Verpasse dabei glatt schon wieder eine wichtige Szene. Das Leben kennt keine Gnade. Es läuft einfach weiter. Auch ohne mich. Die vom Medium vorbestimmte Erwartung erfüllt sich nicht. Im Live-Spiel. Die Wirklichkeit ist live viel zu schnell für meine durch mediale Wiederholungen »verwöhnte« Wahrnehmung. Habe ich durch zu viel Medienerfahrung meinen »schnellen Blick« für die Wirklichkeit verloren? Kann ich meiner eigenen Wahrnehmung „Hier und Jetzt“ noch trauen? Bin ich auf das Medium Fernsehen angewiesen, auf die verlangsamte wiederholte Nahsicht, für mein gesichertes Gefühl wirklich im Bilde, auf der Höhe des Geschehens zu sein? Um sicher in den Moment fließen zu können? In einen emotionalen „Flow“ einzutauchen? Erlebe ich nun eher eine kontrollierte Emotion abseits eines Flow-Erlebnisses? Ein nicht mehr wirklich drin sein können, in den Dingen…?
Kann ich dem Schiedsrichter trauen, der ja selbst auch, bedingt durch seine »fehlbaren Sinne«, nicht mehr auf der Höhe der Technik ist? Wir brauchen doch technische Sehhilfen!? Ohne Video-Kontrolle kann man doch heute eigentlich gar keine »richtige« Entscheidung mehr treffen – oder?
Ist das Leben zu schnell für meine Wahrnehmung?
Fazit. Darf ich meinen Augen wirklich trauen?
NON VIDEO!?

ORTungen Real-Inszenierung: Fußball – eine performative Analyse
Die Veränderung des wirklichen Erlebens, des Augenblicks durch die mediale Sicht auf die Dinge. Was geschieht medienbedingt im individuellen und gemeinschaftlichen Erleben des Augenblicks, beim Tor, am Höhepunkt des Spiels?

Grundsätzliches.

Zwei Mannschaften treffen aufeinander,
um mit und gegeneinander zu spielen,
um zu kämpfen,
um sich zu messen

Zwei Zuschauerblocks stehen sich gegenüber,
um anzufeuern
um zu unterstützen
um zu schreien
um aufzuspringen
um zu jubeln
um zu buhen
um zu erleben
zusammen zu stehen
zusammen zu schreien
eins zu sein
im Schrei
im Jubel
im Tor

Zwei unterschiedlich farbige Massen,
feuern die eigene Mannschaft, »das Eigene« an,
gehen mit,
ergreifen Partei,
bekennen Farbe
zeigen Flagge,
lassen sich emotional ein,
kämpfen mit,
schauen genau hin,
sind Feuer und Flamme
für den Augenblick,
den Moment der Entscheidung,
gehen mit ihrer ganzen Energie in den Spieler,
freuen sich, ärgern sich, jubeln, werten, pfeifen, schreien,
sind mit Leib und Seele dabei,
sind befangen, eingefangen, gefesselt
von diesem Ringen
um Sieg oder Niederlage
wie eine Hetzmeute bei der Jagd,
alles fast wie im Krieg
aber Gott sei Dank sublimiert –
unblutig
meistens

Der finale Stich, Schuss, Treffer, Einschlag…
Die Kugel trifft mitten ins Herz des Gegners
Er holt aus zum vernichtenden Schlag
Der Tod wird zum Tor
Der Torwart steht wieder auf
Das Spiel geht weiter
Es ist doch nur ein Spiel?
Es ist nicht wirklich
Ernst – oder?

Jetzt gibt es eine Wiederholung des Augenblicks:
die Zeitlupe, die Super-Zeitlupe lässt nichts mehr verpassen.
Der Augenblick – oft viel zu schnell für die Wahrnehmung. Wir sehen live im Stadion nur von weitem das Ergebnis im Netz zittern aber der Schrei und die Bewegung der Massen verkünden es. Wie ein Lauffeuer setzt es sich fort durch die Reihen als Welle. Ein tosendes Beben, ein donnerndes fanfarengestütztes, erhebendes…

Doch wehe es gibt Existenzentscheidungen – siehe Wembleytor – dann stockt der Atem, der Kopf setzt aus, ein wütendes ganz archaisches Nein bahnt sich den Weg durch einen gequälten Schlund, bis nur noch das rote Zäpfchen im Rachen sichtbar ist, so groß öffnet sich das verzweifelte Maul, das nicht wahrhaben will, was da geschieht:

Ein gellendes NEEEEEEEEIIIIIIIIIIN!!!!!
mit acht E und zehn I
und fünf Ausrufungszeichen!
Das glaub ich jetzt nicht,
Das darf doch nicht wahr sein
Das gibts doch gar nicht
Du bist doch blind
Geh nach Hause
Schirri raus
Du hast Tomaten auf den Augen
Du schwarze Sau

Ein Raunen geht durch die Menge

LIVE vor Ort dabei zu sein –
ist etwas völlig anderes als eine
LIVE – ÜBERTRAGUNG

Jeder, der gewohnt ist, Fußball primär als Live-Übertragung im Fernsehen zu erleben, ist im Fußballstadion fasziniert und zugleich schockiert und überwältigt.

Das ist eine Massenveranstaltung. Atemberaubend, aufregend, gefährlich, unberechenbar. Zwei unterschiedliche wogende Farbenmeere, aufbrausende Schlachtengesänge. So könnte es früher im Krieg gewesen sein, wenn sich durch Farben gekennzeichnete Heere einheitlich skandierend, rhythmisch trommelnd, furchteinflößend singend, schreiend bedrohten. Ab und zu gibt es Mutproben von Einzelnen, die sich zeigend vor der bedrohlichen Masse über das Feld laufen. Kurz vor der beginnenden Feldschlacht:

Seht mich an
Ich bin mutig
Ich habe keine Angst vor euch!!!
Versucht doch mich zu treffen!

Das Spiel wird live ganz anders erlebt. Es wird erst durch ein brausendes Miteinander-Erleben groß. Die erlebte sichtbare Wirkung, weit aus der Ferne ist oft gar nicht der Rede wert. Sie wird erst groß im gemeinsamen Jubel. Durch den kollektiven Schrei. Das Aufspringen. Hast du das Gesehen? Das war ja der absolute Wahnsinn! Egal. Hab ich‘s wirklich gesehen? Oder geahnt? Der Schiedsrichter hat es für alle bestätigt! Die Menge hat es aufgenommen.

Der Augenblick, das Hier und Jetzt,
der alles entscheidende Höhepunkt
ist schnell verpasst.
Durch einen verstellten Blick
Durch einen Schluck Bier
Einen Fahnenschwenk.
Einen kleinen Seitenblick.

»Hey Nachbar, was ist gerade passiert?«
Die Masse tost und jubelt,
ich habe es nicht gesehen
ich sehe nur das Ergebnis an der Tafel
Jetzt kann und muss ich‘s glauben.
Leider den Moment verpasst
Es gibt keine Zeitlupe im Stadion.
Vorbei! Schon geschehen, einfach weg

Dennoch funktioniert hier der Schwarm
Als Anschluss an eine Orientierung in der Wirklichkeit
Das automatische miteinander Bewegen
Die auf- und abflutende »La Ola«
Die gemeinsame synchronisierende Welle

Das Gefühl als Basis für die eigene Selbsteinschätzung
verändert sich unter dem Einfluss der Medien,

Bin ich mir sicher im Augenblick?
Kann ich mich wirklich auf meine Wahrnehmung verlassen?
Was habe ich genau gesehen?
Ist das wahr? Ist das wirklich?
Gestehe ich dem Augenblick seine unmittelbare Bedeutung zu?
Oder bleibe ich distanziert, warte auf die Wiederholung
weil ich erst dann glaube, was wahr ist.
Erst die Zeitlupe zeigt doch was wirklich geschehen ist – oder?
der Prozess des entstehenden Tores wird sichtbar
nicht das Ergebnis
im Netz
und in Zahlen an der Tafel
sichtbar als Ergebnis
und im Anstoß vom Mittelkreis
erst dann ist es wahr und wirklich

Das Ergebnis ist oft nicht mit den eigenen Sinnen messbar
es bedarf der Exaktheit des Mediums, um wirklich zu werden
also definiert das Medium inzwischen die Wirklichkeit?
Glauben wir noch unserer eigenen Wahrnehmung?
Das Live-Erleben bringt es an den Tag!

Wer Fußball nur noch medial erlebt,
ist nur eingeschränkt in der Lage
ein Spiel live im Stadion ohne mediale Seh-Hilfen
wirklich zu erleben
ohne die Zeitlupe als Überprüfung
für die Richtigkeit der eigenen Wahrnehmung
ohne Nahaufnahmen, um wirklich mit im Spiel zu sein
das Sehen im Stadion ist etwas ganz anderes
es ist ein Sehen – ja mehr ein Ahnen – aus der Ferne
ein statisches Sehen von Oben
im Medium Fernsehen wechselt dagegen die Perspektive
Standort und Standpunkt werden beliebig
im dazwischen
es ist paradox aber das Nah-Sehen
geschieht im Fernsehen
im Stadion wirkt etwas völlig anderes
die Zuschauer sind als Masse erlebbar
und das ist live erst einmal bedrohlich
das Erleben brodelnder Massen
das sich verselbständigende Rhythmisierte
die Unkontrollierbarkeit der Emotionen
die Umsetzung, Dynamik, Stimmungen
das Raunen
das Ah
das Oh
das Uh
das Jubeln
das Schreien
die Freude
die Wut

Unterschiedliche Gefühle
in ständigem Wechsel
im fluktuierenden Auf und Ab, Hin und Her
in seiner Abhängigkeit von oft banalen Spielzügen
und Ereignissen auf dem Platz zu erleben
die projektiv an der Zugehörigkeit
zu einer Mannschaft, zu einem Ort
und zu einer Farbkombination festgemacht und aufgeladen werden
das ist beeindruckend und überwältigend
das ist unmittelbares Live-Erleben
das Spiel ist Anlass für gemeinschaftliches Feiern
für Kampf und Wettstreit
für ein symbolisches Spiel ohne Verluste

Was braucht es für eine funktionierende Inszenierung?
eine definierte Ortszugehörigkeit
eine Farbzugehörigkeit
eine Identität durch einen Namen
ein Stadion
Zwei Mannschaften
Zwei Zuschauerblöcke

Bestimmen die Gruppierung

Kann ich mich einschwingen?
Kann ich den Kopf vergessen?
Gehe ich in den Augenblick?
In ein Hier und Jetzt?
Schreie ich mit den Anderen?
Halte ich mich zurück?
Schalte ich auf Gleichklang?
Werde ich Element im Rhythmus?
Zu einem Teil dieser Massenbewegung?
Nehme ich teil, werde ich Teil
eines Ganzen?

Reagiere ich emotional?
instinktiv
Lasse ich mich treiben

Bleibe ich distanziert,
kontrolliert,
verzögert?
Gegenüber dem einheitlichen
Ja und Nein
ein kritisches Massenerleben

Ist Fußball EMDR?
Eine wechselseitige Hirnstimmulation?
Neue Wege im Hirn erschließen.
Katharsis
Rausch
Ekstase
Trance
Gemeinschaftsbildend
Alleinheitserfahrung?
Archaisches Bekenntnis

Hier findet gelebter Glaube statt
Hier ist der Fußball-Gott anwesend
im Stadion Kirche

Das Medium lässt mich aus meinem Erleben heraustreten,
Mein Blick auf die Realität wird mir genommen,
Es setzt vor, präsentiert, zeigt.
Die Kamera wird mein Hilfsblick,
ersetzt meine Kopf und Augenbewegungen,
gibt mir den Blick vor, leitet mein Interesse.

Ich sollte wieder mehr lernen,
meinen Augen zu vertrauen.
Es gibt nur meine Wahrnehmung.
Der blinde Fleck ist Bestandteil meiner Wahrnehmung.
Er gehört wirklich – ganz materiell – zum Auge dazu.
Die Interpretation der Wirklichkeit ist notwendiger Bestandteil.
Dort, wo sich die Nerven bündeln auf der Netzhaut, ist der tote Punkt unserer Wahrnehmung lokalisiert. An diesem Ort muss ein Teil der Wirklichkeit immer a priori interpretiert werden. Denn dort ist wirklich Nichts zu sehen. Ein Teil unserer Bilder enthalten also immer das Nichts. Ein Loch ist also sowieso schon in unserer Wahrnehmung, um das herum wir Wirklichkeit interpretieren.
Kann ich also wirklich meinen Augen trauen? Oder bestimmen mediale Bilder meinen Blick auf die Wirklichkeit? Das »im Bilde sein« wollen oder müssen scheint eine dringliche Aufforderung, fast eine Zwangsverpflichtung, in dieser medial bestimmten Zeit. Entlarvender verzweifelter Exhibitionismus allenthalben: ekelerregende Schönheitsoperationen live, entlarvende Talkshows, demütigende Big Brother, Realityshows. Und täglich grüßt der Superstar. Die Boulevardisierung des Lokalen: »die alltäglichen Grausamkeiten des Lebens werden medial schön zubereitet passend zum Essen serviert«, etc und als Zuschauer ist das Dabeisein, das Mit-Wichtig sein alles – möglichst im Fernsehstudio – um darüber zu reden und vielleicht einmal in die Kamera winken zu dürfen. Einmal im Leben da zu sein, wo es wirklich stattfindet. Wo das, was wirklich wichtig ist, gemacht wird. Da zu sein, wo die Stars sind, die es geschafft haben. Ist das nicht der Himmel auf Erden?! Mit ihnen auf einer Ebene fast auf Wolke Sieben zu schweben. Ach – es wäre so bedeutsam für das Leben, dass sich all die Mühsal lohnen würde. Welch paradiesische Vorstellung. Einmal das eigene Elend und Leid vergessen auf dem steinigen Kreuzweg der fremden Prozession. Fremdgehen auf dem Kreuzweg? Das ist Blasphemie. Er ist nur für mich gestorben. Er für mich, ich für ihn? Symbolisch. Auf nach Golgatha in Telgte. Geißel über meinem gepeinigten Rücken:
»Mea culpa, mea maxima culpa!«
Endlose Kniefälle vor dem ewig leidenden Sohn vom Jupp. Schmerzverzerrt trage auch ich nun das Kreuz. Die Dornenkrone rutscht immer tiefer in die Stirn, bis all mein Denken, jedes Grübeln, jedes rationale Einordnen durch den stechenden Schmerz völlig nebensächlich wird. Meine Augen durch den roten Schleier kaum noch den Weg erkennen. Ich bin verwirrt und irritiert. Taumelndes Wandeln zwischen engen begrenzenden Münsterländischen Hecken. Alles Wesentliche bitte immer schön verstecken! Mein Blick läuft jetzt nur noch starr auf die nächste Betstation. Das Knie fällt mit letzter Kraft müde aufs Brett. Meine Augen gehen erwartungsvoll nach oben. Zum Abbild Himmlischen Leidens. Hände verschränken. Meine Lippen bibbern nur noch:
»Himmel hilf! Maria hilf! Jesus, Maria.«
Und dann…? Wieder aufraffen! Hilft ja alles nichts. Weiter geht‘s. Immer weiter… und weiter mit zerschundenen Knochen…
Wo ist sie nur geblieben die Vorsehung?
Wohin sind sie verschwunden Auguren, Seher, Wahrsager und Schamanen? In den Zeiten von Sinnkrise, Glaubensverlust und Reality-TV? Hat die Kirche sie gefressen? Sich einverleibt? Sind sie dort noch lebendig? Sind sie nur noch in fremden Ländern zu finden? Oder sind sie in einigen wenigen Reservaten in unserer Gesellschaft aktiv? In der Kunst, als Heilpraktiker, als Therapeuten, als Schamanen…?
Wo sind Orte von Utopie?
Im Wald?
In Telgte?
Bei der Wallfahrt?
Auf dem Pilgerpfad?
In der Kirche?
Im Fußballstadion?
In Schulen?
Auf Industriebrachen?
In Abrisshäusern?
In Ruinen?
Im Lehm?
Am Stein?
Am Baum?
An der Quelle?

Plötzlich ist ganz klar: »So kann es nicht weitergehen.«
Mein Leben und auch das der meisten anderen Menschen ist durch Visionsmaschinen bestimmt. So, wie in alten Zeiten der Stamm gemeinschaftlich um das Feuer sitzt und in lebendigem flackernden Schein den Geschichten der Alten und Tapferen lauscht, versammeln sich nun Einzelne täglich um einen flimmernden Kasten, der Welt repräsentiert. Alle Menschen scheinen dort miteinander vereint, wie in Platons Höhle. Geneigt, sich täglich fesseln zu lassen, an Hals und Schenkeln, ohne den Kopf drehen oder abwenden zu können. Bereit für die Schattenbilder unserer Zeit. Einige reden dabei, andere schweigen. Die meisten aber halten die gezeigten Bilder für wahr.
Ein gemeinschaftliches Feuer ist mitsamt aller Schatten in die Flimmerkiste gewandert. Alle scheinen nun dort vereint und untrennbar miteinander verbunden. Die magische Welt künstlich erzeugter Bilder gewinnt immer weiter Macht über die Wirklichkeit. Dem täglichen Sog dieses »im Bilde sein müssens« kann die weiter an Bedeutung verlierende reale Welt immer weniger entgegensetzen. Sie driftet in Richtung „Nebel von Avalon“ oder „Harry Potter“. Auf Sinn-Suche in medialen Tempeln nach Knochen, magischen Reliquien von „Super-Stars“. Als wenn die eigene Existenz davon abhinge:
»Ich bin nur wirklich wirklich, wenn ich im Bilde bin? Wenn ich in den Medien präsent bin.« Einmal im Leben im Fernsehen sein und allen zuwinken? Auch die Nachbarn sehen mich: »Jetzt bin ich endlich wer! Sie haben mich wahrgenommen. Alle haben mich gesehen. Ich auf einer Bild-Ebene mit den Superstars. Ich darf mich in ihrem Glanz sonnen. Habe mich an ihren Orten aufgehalten. Aus ihrer Tasse getrunken, von ihrem Teller gegessen. Ich habe sie berührt und inhaliert. Zum Fressen gern? Nehme mir von ihrer Kraft. Bin ich nun durch sie in meinem Leben geheiligt, wie durch eine mediale Wallfahrt? Oma hat alles aufgezeichnet und nun wird es immer wieder vorgeführt. Jetzt bin ich mitmächtig.« »Video – Ich sehe?«

»Non Video« – Ich sehe nicht. »Non Video« heißt »Live sehen«. So, ganz in echt sehen. Live sehen heißt: Nicht Fernsehen! Mit meinen Sinnen, mit eigenen Augen. Das aber erlebe ich unter meinem „Fernseh-Blick“ als irgendwie fehlerbehaftet. Mir wird real nicht mehr vor – »gesehen«? Fehlt mir die Vorsehung? Oder sehe ich mich selbst nicht mehr vor?

© Jürgen Lemke

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